Auf der Suche nach

L a G e s t a

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Part 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1

Die späte Dämmerung leert die Gassen und liegt wie zäher Teer auf allem, was einige Stunden zuvor noch voller Leben steckte: dem Gurren der verkommenen, vom Abfall lebenden, grauen Tauben zum Beispiel, die hier in den Vierteln, in denen die Majorität aller Bewohner ihr Dasein fristet, das Leben meist nur aus Schufterei besteht und trotzdem von Jahr zu Jahr alles verkommt und marodiert, zu allem Überfluss diesen Prozess noch beschleunigen mit ihren Ausscheidungen, die von den geflickten Dachrinnen tropfen, die Fassaden streifen, an denen der Putz zu einer Seltenheit avanciert und die Nässe aus den Kellern aufsteigt, sich durch alles hindurchfrisst, was sich ihr in den Weg stellt: Stahl und Stein. Bürgersteige sind von diesen Exkrementen gespickt, der Asphalt wölbt sich und ist an allen Stellen durch den Einfluss der Witterung zerborsten. Niemand kümmert sich um den Abfall der Zivilisation, der in jedem Hauseingang sich präsentiert, in jeder Kellerluke sich türmt und Herberge ist für eine Unzahl entsetzlichen Ungeziefers, das sich erstaunlicherweise gerade hier wohlfühlt und sich vermehrt, jeden Tag bereit, mit einer Epidemie über die Kinder herzufallen, die sich hier ihrem Schabernack hingeben, hier zwischen den Mülltonnen und streunenden Hunden, den tollwütigen, schwangeren Katzen und all dem Dreck und Lärm in dem brennenden und gleißenden Sonnenlicht des Sommers.

Jetzt ist von all diesen Eigenheiten des Tages nur noch wenig zu spüren, und ein angenehm kühler, trotzdem giftig und krank riechender Luftzug umsäuselt die Szenerie.

Nur aus Trägheit sitze ich ausgerechnet in einer Kneipe der wohl schrecklichsten Gegend weit und breit, trinke ein Bier, was ich nicht oft tue. Diese Lokalität wurde mir von einem der Individuen empfohlen, mit denen ich selten und zwangsläufig kontaktiere, einer zwielichtigen und unsozialen Person, und dieser Ort seines gelegentlichen Aufenthaltes bestätigt nur wieder meinen Eindruck von ihm.

Obwohl heute ein Mittwoch ist und wohl alle der hier anwesenden biertrinkenden, laut lachenden und sich amüsierenden Arbeiter morgen wieder hinter ihren Fließbändern und Drehbänken stehen müssen, ist ein reger Betrieb und gute Stimmung, nur die meine will sich nicht so recht derjenigen der Proletarier anpassen, etwas abseits fische ich ein Insekt aus meinem Glas und weiß nicht recht, ob ich über die Primitivität der anderen lachen oder über meine eigene Einsamkeit weinen soll. Ein Büchlein nehme ich zur Hand und mache mit feuchten Augen einige Aufzeichnungen, doch die Worte verschwimmen vor meinem Blick. Die Tränen laufen meine Wangen herunter und ich drehe mich in den Schatten der Straße, damit niemand meinen Emotionsausbruch notiert.

"Ist hier frei?", ertönt es hinter mir, ich trockne schnell die Augen und wende mich um.

"Ja, nehmen Sie den Stuhl!", doch der Mann setzt sich mir gegenüber, ich komprimiere daraufhin meine über den Tisch verstreuten Dinge ein wenig.

Der ungefähr Dreißigjährige mutet mich sehr verkrampft an, er sieht blass aus, und ihm steht Schweiß auf der Stirn, den er mit einem Taschentuch abtupft, als sich die Kellnerin nach seinem Wunsche erkundigt. Er macht einen übermüdeten und unruhigen Eindruck, seine Augen sind gereizt, er fährt sich durch seine mittellangen Haare und putzt seine Brille.

"Sind Sie von hier?", fragt er mich.

"Halb und halb, was möchten Sie wissen?"

"Ich muss irgendwo übernachten."

"Konsultieren Sie lieber die Kellnerin, sie wird Ihnen bessere Auskunft erteilen können."

"Ja, das mach’ ich, wenn sie kommt."

Es herrscht wieder Stille, in der ich beginne, mich über den Mann zu wundern. Einen verwahrlosten Eindruck macht er nicht auf mich, etwa einen solchen wie jene bedauernswerte Personen, die einen nachts anpöbeln und fragen "Hast du schon ‘ne Penne?". Ich sollte mich freuen, dass mir die Chance dargeboten wird, vielleicht ein wenig zu kommunizieren, doch bin ich zu feige und greife nach meinem Buch.

"Was schreiben Sie?"

"Ich notiere einige meiner Gedanken."

"Sind Sie ein Schriftsteller?"

"Das kann man vielleicht so sagen. Ich verfasse Gedichte, viele Gedichte. Gerade arbeite ich an einer Kollektion. Hier sammele ich die Ideen, damit die Kreativität meines Wortflusses nicht durch den inhaltlichen Anspruch gehemmt wird."

"Ach so."

Er lehnt sich zurück, wahrscheinlich weil er nicht recht versteht, was ich meine.

"Und woher kommen Sie gerade? Dass Sie nicht wissen, wo zu übernachten?"

"Ich bin mit dem Zug gekommen, ich musste mit dem Zug heute noch hierher, da bin ich vom Bahnhof geradeaus in das Hotel gegangen und wollte dort schlafen, doch der Mann am Schalter sagte, dass im Hotel niemand übernachten kann, dort wäre gestern ein Feuer ausgebrochen, und nun wäre Stromausfall, ein anderes Hotel wollte er mir aber nicht empfehlen, das wäre ja die Konkurrenz, daraufhin habe ich vor Wut den Mann angeschrieen, als plötzlich die Polizei auftauchte und mich mitnahm - angeblicher Hausfriedensbruch. Auf der Wache habe ich all meinen gesunden Menschenverstand zusammengenommen und ruhig geschildert, wie alles gewesen wäre, obwohl ich überlegt habe, ob ich nicht auch dort ein bisschen die Aufruhrtrommel schlage, um gleich dort zu übernachten - ich war einfach nur todmüde - aber dann haben sie mich gehen lassen, und ich stand in diesem Drecksviertel - es wurde dunkel - kein Mensch mehr weit und breit, nur noch so ein langhaariger Typ, den ich fragte, wo das nächste Hotel wäre; der schickte mich hierher."

Ich schaue zu einem anderen Tisch und weiß nicht so recht, was ich von der Geschichte halten soll.

"Sie glauben mir nicht..."

"Doch schon, es klingt nur ein wenig merkwürdig. Um welches Hotel handelt es sich?"

"Jupiter, Saturn, Venus? Ich weiß es nicht mehr!"

"Merkur! Natürlich, das ist am Hauptbahnhof. Hotel Merkur - und da ist der Stromausfall?"

"Ja, schon seit gestern - alle Gäste evakuiert, hat der Mann gesagt."

"Und wonach trachten Sie hier?"

"Wonach ich trachte?"

"Was haben Sie vor hier in der Stadt?"

"Geschäftliche Dinge, nicht weiter von Belang."

Die Kellnerin tritt heran und serviert seine Bestellung, er nutzt die Gelegenheit, um sie nach einer nächtlichen Bleibe zu befragen, und sie empfiehlt ihm ein in der Nähe befindliches Hotel, das auch nachts Gäste annehme. Daraufhin bittet er die Bedienstete, für ihn ein Taxi in einer Viertelstunde zu rufen, doch ich unterbreche und biete ihm an, ihn zu chauffieren, eigentlich nur, weil ich gedenke, auch bald diesem nach Alkohol und Bratwürsten riechenden, von lauter Anspruchslosen gefüllten Betrieb zu entfliehen, entweder zu Gunsten einer etwas mehr meinen Wünschen entsprechenden Einrichtung, oder, weil ich schon genug habe von den Ausdünstungen der Gastronomie und dem Zigarettenqualm und den sinnlosen Tischgesprächen und -gelächtern, umrahmt von veralteter Musik, die aus einigen Lautsprechern tönt, sich an den Körpern der vielen Personen bricht und reflektiert wird, um letzten Endes ganz und gar von den durchschwitzten Kleidungsstücken der Anwesenden absorbiert zu werden. Er bekundet seinen Dank, und nun sitzen wir schweigend einander gegenüber, nervös kritzle ich einige Striche und Kreise in mein Heft und versuche, meine Gedanken wieder auf das zu richten, was ich vor hatte, schriftlich zu vermerken, doch will meine Konzentration nicht wiederkehren. Die Trauer über meine Vereinsamung ist weggefegt, doch nur, solange ich mich der Gesellschaft dieses Mannes erfreuen kann, doch sie ist sicherlich nur von kurzer Dauer, scheint er doch auch aus einer entfernten Stadt zu stammen, außerdem mutet er einigermaßen misstrauenswürdig an, denn kein unter geordneten Verhältnissen existierender Mensch besucht eine Stadt um diese Zeit, ohne zuvor seine Unterbringung gesichert zu haben.

Das Objekt meiner Verwunderung ist inzwischen, in seinem Stuhl zurückgelehnt, den Kopf auf die Brust gesunken eingeschlafen, und ich habe nun die Möglichkeit, ihn mir etwas näher zu betrachten und nutze sie, mir einige Aufzeichnungen zu machen. Zu meiner Genugtuung nehme ich noch meinen Fotoapparat aus der ledernen Tasche und lichte den Schlafenden bei ausgeschaltetem Blitzlicht ab, das Geräusch reißt ihn aus seinen Träumen, doch lasse ich die Kamera flink zurückgleiten, weil mir meine Manie doch etwas peinlich vorkommt, als er seine Augen langsam aufschlägt und bei vorgehaltener Hand gähnt.

"Oh nein, ich bin eben doch schon beinahe eingeschlafen... ich glaube, wir müssen jetzt los, sonst muss ich ganz und gar in diesem Lokal übernachten."

Daraufhin gebe ich der Serviererin Zeichen, und wir begleichen die Zeche. Nachdem ich meine Unterlagen geordnet und alles verstaut habe, steht der merkwürdige Mann mit seiner Sporttasche bereit, wir verlassen erleichtert einen der miserabelsten Orte dieser Stadt und biegen in eine der elendsten Gassen ein, in der mein Auto steht. Erleichtert, dass es keine Einbruchsspuren trägt, schließe ich auf und weise dem müden und trotzdem nervösen Mann den Beifahrersitz zu.

Um ein wenig von der frischen, durch die schmalen Straßen ziehenden Luftzirkulation einzufangen, lasse ich mein Fenster herunter und stelle eine Frage.

"Was...?" - mein Beifahrer scheint schon wieder in den Armen des Zeus zu ruhen, und so gleitet mein Fahrzeug leise durch die Nacht - eine große, beleuchtete Straße entlang, die noch ein wenig belebt ist, und bald erreichen wir unser Ziel.

"Wir sind am Hotel!", flüstere ich, und mein Nachbar öffnet seine Augen einen Spalt.

"Gut...", er greift seine Tasche, bedankt sich bei mir für die Mitnahme und schließt von außen die Wagentür. Langsam schreitet er die Treppe zur Gastwirtschaft hinauf und verschwindet in einer automatischen Drehtür.

Sinnend sitze ich im Halbdunkel und schaue den vorbeifahrenden Autos hinterher; wie ihre roten Lichter rechts, links, geradeaus in den Seitenstraßen verschwinden und am Horizont verbleichen, wie entgegenkommende Fahrzeuge mich blendend bescheinen, wie sich betagte Radfahrer mit Körben von Zeitschriften an mir vorüberquälen, hie und da an den Hauseingängen haltend, ihrer Ware sich entledigend, wie ab und zu Personen meines Alters und jüngere die Geschäfte entlang spazierend, aus einer Kneipe kommend unsinnige Worte wechseln, wie eine schwarze Katze den Fußgängerweg mir entgegenschleicht und, als plötzlich das Heulen eines Krankenwagens die Stille zerreißt, geängstigt in die Obhut eines Fahrzeuges flieht, wodurch sie sich meiner Beobachtung entzieht...

Plötzlich öffnet sich meine Beifahrertür, und der müde Mann steigt mit halb geöffneten Augen auf den Sitz neben mir.

"Hier herrscht eine Epidemie, hat der Mann am Eingang gesagt. Der Zugang sei untersagt, und übernachten könnte man hier einige Wochen lang überhaupt nicht - und wo ein anderes Hotel sei, könne er mir auch nicht sagen, er sei nur vom Sicherheitsdienst."

Nun erweckt die Glaubwürdigkeit dieses Mannes doch meine begründeten Zweifel, und ich verlasse entrüstet mein Fahrzeug, um mich von der Wahrheit seiner Berichterstattung zu überzeugen.

Vor dem Eingang steht ein Uniformierter und erläutert mir die Situation:

"Nichts zu machen, mein Herr, hier kommen nur Leute vom Gesundheitsamt und andere autorisierte Personen herein."

"Aber ich muss irgendwo übernachten..."

"Da bin ich überfragt, ich bin nicht von hier..."

Perplex schreite ich die Treppe zum Auto herunter und schaue die Straße hinab in die Ferne, in der sich die Geraden, die durch die Leuchtstellen der dies- und jenseitigen Laternen gebildet werden, in einem Punkt vereinen, die Fahrzeuge rauschen nah, in aller Ferne vorüber, und vom Ende der Welt her tönen die Schreie eines Mannes, der flehend seinem Freund hinterher sieht, doch er sieht ins Dunkel, ins unendliche Nichts.

"Das darf es doch nicht geben, von solch ungewöhnlichen Dingen hätte ich mir nie zu träumen gewagt."

"Wem sagen Sie das, vielleicht haben Sie eine Idee, wo ich heute Nacht bleiben soll?"

"Wir könnten im Telefonbuch noch etliche weitere Hotels heraussuchen, doch meinethalben können Sie bis morgen früh bei mir das Gästezimmer mit ihrer Anwesenheit erfreuen."

"Das scheint mir kein übles Angebot, zumal mir angesichts meiner Müdigkeit die weitere Suche nach Hotels ziemlich schwer fiele." ---

Keinerlei Kenntnisse besitze ich über diesen Mann, weiß weder, woher er kommt, wohin er geht, noch was er von Beruf ist. Doch nun liegt er in meinem Gästezimmer auf dem Sofa, nicht entkleidet, nicht beköstigt, mit der Bitte um ein morgendliches Wecken ungefähr um zehn, wenn es mir keine Umstände machte, und atmet unter gleichmäßig ruhigen Bewegungen seines Brustkorbes. Auf seinem Shirt stehen die Worte "HAWAII-UNIVERSITY of TECHNOLOGY", ich verlasse das Zimmer im Zweifel, ob dieser Mann mit jener Bildungsstätte wohl etwas zu tun hat.

Natürlich ist mein Sinnen von Misstrauen erfüllt, doch besitze ich einen so leichten Schlaf, dass ich bei etwas geöffneten Türen mich niederlege und wachsam noch einige Minuten in die Dunkelheit starre, den seichten Bewegungen der Umrisse eines vor dem Fenster stehenden Baumes folgend, die sich auf Grund einer an der anderen Straßenseite befindlichen Laterne undeutlich abzeichnen. Die leisen, rauschenden Töne, welche die Blätter durch ihre Interaktion hervorrufen, dringen durch die Scheibe an mein Ohr und erzeugen in meinem tiefen Inneren Zweifel daran, ob es auf der ganzen großen Welt auch nur eine Kreatur gibt, die mich braucht, die mit frohen Gedanken an mich denkt und die es bedauerte, wenn es mich nicht mehr gäbe unter den Irdischen. Oft fehlt mir in diesen Augenblicken das Elixier zur Existenz, und eine zähe Masse breitet sich über mir aus, um mich zu ersticken, und drückt mein Herz und meinen Brustkorb mit abnormer Gewalt. In diesen Momenten ringe ich verzweifelt nach Atem und suche vergebens nach Dingen, denen ich das bisschen Energie noch schenken soll, das ich besitze, wähne mich oft unter einem großen Rad und glaube, dass ich am nächsten Morgen nicht mehr erwachen werde. Doch dieser Morgen kommt, und er kommt nicht ohne mich, er reißt mich aus dem einzigen noch optimistischen Gut, das mir seit Jahren blieb - meinen Träumen - reißt mich herein in die Realität des Alltags, zwischen all die seelisch Verdorbenen, denn ein Mensch von heute ist erst dann ein anerkanntes Wesen, wenn er den geistigen Level erreicht hat, den man noch einigen Jahren zuvor nur schizophrenen Paranoikern zugestand; heute weiß man nicht mehr, ob ein Individuum geisteskrank ist, unter Drogen steht, so tut als ob, um wichtig zu erscheinen, oder ein wirklicher Prophet ist; nur von mir weiß ich mit Bestimmtheit, dass man mich keiner dieser vier Sparten zuteilen kann, ich bin mit meiner natürlichen Normalität zu einem Außenseiter dieser Gesellschaft aufgestiegen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Aufgewirbelte Staubpartikel werden vom durch das Fenster treffenden Sonnenlicht zum Glühen angeregt, und das ganze Zimmer wird von leuchtenden Balken und Wänden zerteilt. Der Morgen präsentiert sich von seiner besten Seite, in seinen schönsten Farben entreißt er jeder Menschenseele zumindest einen Hauch der Glückseligkeit und der Hoffnung. So auch mir: frohen Mutes decke ich den Frühstückstisch und wecke den Mann, der bald aus dem Gästezimmer kommt, unrasiert, stark nach Parfum riechend, und sich mit mir an den Tisch setzt.

"Haben Sie gut geschlafen?"

"Ja, danke, gut."

Auf mich macht er allerdings den gegenteiligen Eindruck. Dunkle Augenringe und tiefe Stirnfalten zeugen von einer schlaflosen Nacht, und er führt alle Bewegungen langsam und mit starker Überwindung aus. Zwischen uns möchte kein Gespräch entstehen, und so hat das Schweigen erst ein Ende, als er wegen seiner zitternden Hände seinen Kaffee verschüttet und sich vielmals entschuldigt, während ich einen Lappen besorge.

"Geht es Ihnen nicht gut?"

"Mir ist ein wenig übel."

"Wann ist heute Ihre Verabredung?"

"Ich werde in einigen Minuten aufbrechen müssen."

"Soll ich Sie vielleicht ein Stück mitnehmen; ich habe nämlich ebenfalls einige Dinge zu erledigen, wohin müssen Sie?"

"Danke, aber das ist nicht nötig; ich werde die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen."

Deutlich spüre ich, dass sich in ihm, wie auch schon gestern, eine Nervosität breit macht, jedoch eine weitaus stärkere; sein ganzer Körper vibriert bisweilen, und er ist nicht mehr im Stande, sich auf das Essen zu konzentrieren. Nachdem er noch einen Schluck seines Kaffees genommen hat, verabschiedet er sich bei mir eilig, schafft es nicht einmal mehr, seine Gedanken zusammenzuraffen, um seinen Dank auszusprechen.---

Jetzt jedenfalls ist er von hinnen, und ich stehe noch immer am Fenster; ich schaute ihm solange nach, bis sein Körper hinter einer weit entfernten Hausecke verschwand; seine Sporttasche hatte er über die Schulter geworfen, und eiligen Fußes schritt er an spielenden Kindern vorbei seinem Ziel entgegen.

Was ist eigentlich sein Ziel? Welche Verabredung konnte ihm eine so starke Konfusion und innere Zerstreutheit aufbürden, die er heute morgen an den Tag legte? Ob es seine große Liebe ist, die er zu treffen gedenkt? Mein gesunder Menschenverstand zweifelt daran, in diesem Falle hätte er sicherlich mit mir darüber geredet. Richtig, es muss etwas sein, worüber er nicht hätte mit einem Fremden reden können - ein dunkles Geschäft oder ein Geheimnis... etwas Verbotenes oder des Verbergens Würdiges, etwas nicht Alltägliches, etwas Interessantes und vielleicht Mystisches, zumindest etwas, das mich einer ungeheuren und nicht zu bändigenden Neugierde aussetzt, dem Drang, es zu erfahren oder es zu entschlüsseln. Doch diese Messen sind gesungen, und mir bleibt nichts als ein Rätsel und die Erinnerung an die wenigen Augenblicke der Gesellschaft mit diesem Fremden...

Enttäuscht begebe ich mich zu meinem Wagen und fahre, einige Besorgungen zu unternehmen, in die Stadt. Dort erwartet mich eine drückende Hitze und eine sinnlos hinundherlaufende, unbegrenzte Masse von Menschen, die so emsig tut, wie ein Ameisenhaufen und so nützlich ist, wie der Schmutz auf der Straße. Mein Auto lasse ich im Parkverbot stehen und mische mich unter den Strom stinkender Großmütter, lahmender Urgroßväter, träger, schwangerer Frauen, arbeitsloser Bauarbeiter und pöbelnder Straßenkinder. Hier und da muss ich aufdringliche Ökologen durch Unhöflichkeiten verdrießen oder dreckige Serbenkinder abschütteln, die sich dreist an mein Bein hängen. Die Preise angebotener Waren sind ausnahmslos unverschämt, deshalb versorge ich mich nur mit dem Wichtigsten. Einige Bankgeschäfte erledige ich danach und ärgere mich im Anschluss daran noch mit einem Beamten des Einwohnermeldeamtes herum, der vom Melderecht weniger Ahnung hat als ich und mich unverrichteter Dinge nach zwei Stunden Wartens wieder fortschickt. Mit der Bürokratie und mit seinen Geldgeschäften kann man mühelos seine gesamte Zeit verschwenden, und wenn man außer diesen Dingen vielleicht auch noch anderes zu tun hat, ist es kein Wunder, wenn man zum Sozialfall wird!

Müde und hungrig passe ich mich erneut dem widerlichen Menschenstrom an, um auf diese Weise wieder zu meinem Wagen zu gelangen... doch der ist fort - mich überkommt weniger der Schreck über den Verlust, sondern vielmehr der Ärger, dass das ganze Chaos in der sengenden Sonne auf den windstillen Boulevards, die rechts und links gesäumt werden von grauen Betonbauten und erschlagenden Glasbauwerken, erfüllt sind von tosendem Autolärm, ekelerregendem Dieselgestank, umherlungernden Asozialen und autonomen Bunthaarigen, die ihre lausigen Köter auf einen hetzen, die nach einem spucken und ihr Bier nach einem spritzen, den verkrüppelten, beinamputierten Bettlern, den dunkelbraunen Straßenarbeitern mit behaarter Brust und unverständlichem Slang, die ab und zu den Weg absperren durch aufgerissenen Asphalt und tiefe Löcher, die jedermann mit dem blauen Dunst ihrer Teermaschinen und ihrem Gebrülle, Gehämmer und Geschleife den Rest geben..., dass die Gesamtheit dieser Dinge also für mich noch kein Ende fand, sondern vielmehr nun noch brachialer auf mich einprasseln soll. Fast im Trance, sicherlich beinahe apathisch anmutend, reihe ich mich erneut in die unendlichköpfige Menge ein und lasse mich, diesmal in eine andere Richtung - denn mein Ziel ist die nächste Polizeidirektion - mitreißen. Ich lasse mich gleiten, werde fortgerissen von einer ungeheuren Strömung. Mir gegenüber bewegen sich fremde Körper und Gesichter. Ihr Anblick erzeugt einen nicht zu bändigenden Schwindel in mir; ich sehe nur noch ihre Augen um mich herum kreisen, höre ihre allgegenwärtigen Stimmen stochastisch verteilt einmal hier und einmal woanders lauter. Alle Augen blicken mich an. In ihnen lese ich viele Geschichten, zeigen sich verschiedenste Gemüter, unterschiedlichste Stimmungen: Ängste, Freuden, Trauern, Wüte, Müdigkeiten und Entsetzen - ja, in zwei Augen sehe ich Entsetzen, zwei Augen, die mich ganz besonders anschauen, mich durchbohren, und langsam zeichnen sich in meinem Kopf auch die Konturen der Person, der dieses Augenpaar gehört, ab. Ihr Gesicht beginnt langsam, sich zu drehen, kommt dabei immer schneller werdend auf mich zu, das Geräusch der sich um mich tummelnden Menschenmasse eskaliert zu einem unbeschreiblichen Getöse, das urplötzlich, während der Körper der Person, der auf mich den Eindruck macht, als wäre er ein Gemälde Frida Kahlos, auf mich hereinbricht, in einen entsetzlichen Schrei übergeht, einen solchen, der einem die letzten unbekannten Gehörknöchelchen zerspringen lässt - einen Todesschrei.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2

Die Sonne sendet gnadenlos ihre scharfen, sengenden Strahlen auf alles, was bis zum Horizont zu sehen ist, es geht eine vernichtende Kraft von ihr aus, die beinahe jedes lebendige Objekt in Schutt und Asche verwandelt. Nur wenige Ausnahmen fristen hier ihr Dasein, anscheinend sich von ausgedörrten, zerrissenen Erdbrocken sich ernährend, feinen, beigegrauen Sand trinkend und aufgewühlten Staub atmend. Hie und da taucht ein drahtiges Gestrüpp auf oder ein kleiner, skelettartiger, buckliger, vielleicht mannshoher Schirmbaum. Die Temperaturen befinden sich längst jenseits des Erträglichen; ich ziehe meine Schirmmütze tiefer in das Gesicht, da das gleißende Hell senkrecht von oben an meinen schwarzen Brillengläsern vorbeidrang und ich dadurch kaum noch im Stande war zu sehen, wohin ich fahre. Außerdem ist es langsam Zeit, eine Pause einzulegen, und deshalb unterbreche ich, als der nächste ein klein wenig Schatten spendende Krüppelbaum auftaucht, meine Fahrt.

Erschöpft von der unbequemen Tour, der drückenden Schwüle, und weil der Tag heute schon älter ist, als ich es um diese Stunde gewöhnt bin, greife ich unter den Sitz und hole eine Kunststoffflasche hervor und einen dünnen Schlauch. Der Musanga ist größer als er auf den ersten Blick zu sein schien, und ich lehne mich zufrieden an seinen Stamm, drehe die Flasche auf und nehme einen kräftigen Schluck des darin befindlichen Wassers. Die Lichtimpulse treffen zwar mein Gesicht nicht mehr direkt, jedoch genügt die Reflexion durch den hellgrauen Wüstenboden bereits, dass ich stark blinzeln muss, um überhaupt noch den einige Schritte abseits stehenden Wagen orten zu können, was mir auch gar nicht nötig erscheint, und deshalb schließe ich müde die Augen. Mit meiner Hand führe ich den Schlauch in die Flasche ein, grabe dieselbe aufrecht fast bis an den Deckel in den schattigen Sand an meiner Seite ein, damit das erfrischende Nass nicht der direkten Hitze ausgesetzt ist, nehme das andere Kapillarende zwischen meine Lippen und stelle erfreut fest, dass als Reaktion auf einen geringen durch meinen Mund erzeugten Unterdruck das erquickende Fluid meinen Gaumen besudelt. Die Umgebung wird beherrscht durch eine absolute Stille, kein Windhauch, kein Gezeter einer Wüstenspringmaus und auch kein Geschrei eines Savannenläufers ist wahrzunehmen. Entweder gibt es hier keine tierischen Lebewesen, oder ihnen geht es wie mir und all den in diesen Breiten lebenden Menschen: um diese Tageszeit ist kein Arbeiten möglich und auch keine anderen Unternehmungen, man kann nicht feiern, nicht essen, keinem Menschen einen Hauch seiner Beachtung schenken, in einem scheint keine Energie zu stecken, nicht die simpelsten Vorhaben wollen gelingen, man kann sich nicht einmal mit seinen innigsten Wünschen wieder etwas beleben, wenn beispielsweise jetzt die heißgeliebteste Frau meines Lebens vor mir stünde, ich müsste ihr sagen:

"Bitte lege dich neben mich, ich bekomme jetzt kein Auge auf und kann auch kein anderes Körperteil nur rühren!"

So geht es jedenfalls mir im Augenblick, und es schaudert mich bei dem Gedanken, es könnte jetzt tatsächlich jemand an mich herantreten und mich belästigen. Doch bin ich mir sehr sicher, dass hier an einem der ödesten Plätze dieser Welt die Wahrscheinlichkeit des Auftauchens einer Person außer der meinen verschwindend gering ist. Mit den wenigen klaren Gedanken, die zu ordnen ich noch fähig bin, wollte ich wohl gerade noch einmal die Geschehnisse der letzten Woche an mir vorübergleiten lassen, doch auch dazu genügt meine Kraft nicht mehr, und ich sinke langsam in eine immer ebenere Lage, genauso wie sich meine Gedanken glätten und den Weg für einen erholsamen Schlummer freimachen.

Mein Traum entführt mich in ein viel weiter südlich gelegenes Land, in die tropischen Wälder, in denen aus allen Richtungen das Summen, Brummen und Surren der verschiedensten Insekten, das Juchzen, Fauchen und Bläken der unterschiedlichsten Urwaldbewohner und das Zwitschern, Piepen und Zirpen der buntesten jemals von mir gesehenen Vögel erschallt und die Umgebung in eine stetige Bewegung versetzt, mit einer starken Lebendigkeit erfüllt.

Aus meiner kleinen Strohhütte heraus trete ich ins Freie und recke mich zu dieser frühen Stunde von dem Leben der Dschungel geweckt. Ein schmaler Sonnenstrahl, der durch das Dickicht der mammutartigen Bäume fällt, kitzelt meine Nase, und ich sinne darüber nach, was ich zu tun gedenke. Meine Vorräte an Brot und Wurst sind verdorben, so dass ich mich entschließe, nach etwas Essbaren mich umzuschauen. Deshalb rüste ich mich mit meinem Säbel und einem Rucksack aus, der das Allernötigste für eine kurze Expedition in das unbekannte Holz enthält, und beginne meine Jagd nach Essbarem in Richtung Sonnenaufgang.

Nur langsam vorankommend kämpfe ich mich mit Hilfe meines langen Messers durch die mich umringende artenreiche Ansammlung der üppigsten Vegetationsarten. Diesen Fleck Erde betrat noch kein Mensch vor mir, und das bekomme ich auch durch den Widerstand des Waldes zu spüren, der in der Zähigkeit des Pflanzenmaterials und dem lautstarken Gezeter der tierischen Einwohner dieses Erdenflecks besteht. Selbstredend nutze ich vor allem die sich mir bietenden natürlichen Pfade der Dschungel, wenn das Dickicht mir jedoch das Weiterkommen in allen Richtungen verwehrt, greife ich zur Waffe oder klettere an einer Schlingpflanze oder einem Teak empor, um jenseits weiter vorzudringen. Dass ich meine Behausung durch mein ungeordnetes Vorstoßen in das Unterholz vielleicht nie wieder zu finden vermag, ist mir beinahe egal, weil sich in ihr keinerlei unersetzliche Dinge befanden. Sollte ich eine idyllische Stelle einige Kilometer weit entfernt ausmachen, vielleicht an einer Lichtung, in einer Baumhöhle oder aber auch im Wipfel eines der Tausenden Riesen, dann wäre ich damit sehr zufrieden. Auf meinem Weg durch das lebendige Grün entdecke ich eine Vielzahl mir unbekannter Früchte und Beeren, die ich in meinem Sack unterbringe zusammen mit anderen Gütern des Waldes wie zum Beispiel die von mir ausgegrabenen Wurzeln eines Strauches, die genießbar erschienen, und die Rinde eines Geästes, die auf mich den Eindruck eines starken Gewürzes machte. Die Blätter einiger Gewächse scheinen vorzüglich für die Tabakherstellung geeignet zu sein, andere wiederum sind sicherlich gut für die Bereitung eines Aufgusses zu benutzen.

Auf diese Weise stelle ich mir eine Palette der unterschiedlichsten Güter, die mir die hiesige Vegetation zu bieten hat, zusammen und ruhe mich ein wenig aus, nachdenkend darüber, ob ich den Rücktritt anbrechen sollte oder meine Erkundungen und meine Suche nach einer mir praktischer anmutenden Behausung fortsetzen soll. Endlich entschließe ich mich, weiterzuziehen in Richtung der Morgenröte, die natürlich längst verflogen ist, zumal es in diesen Breiten keine Morgenröte gibt - die Einwohner kennen nicht einmal den Begriff "Dämmerung". Der Tag ist hier das ganze Jahr über exakt zwölf Stunden lang, und dann bricht von einer auf die andere Sekunde die stockfinstere Nacht herein, wer sich bis dahin nicht nach Hause gefunden hat, muss dort liegen bleiben, wo er sich gerade befindet, und bis zum nächsten Morgen verharren. Bis dahin sind jedoch noch einige Stunden, und ich setze meine Tour durch Geäst, Gebüsch und Gewächs fort.

Ich besitze keine Uhr und schaue zu den Wipfeln nach oben, um einen Schimmer der Sonne orten und auf diese Weise eine ungefähre Uhrzeit abschätzen zu können. Es ist bereits Nachmittag, und vielleicht in einer halben oder einer Stunde wird das tägliche Gewitter ausbrechen, die Sintflut, doch bislang ist noch kein Wölkchen zu sehen.

Trotz meiner nun schon einen halben Tag andauernden Wanderschaft scheine ich heute keine neuen Erkenntnisse mehr über meinen zukünftigen Wohnort erringen zu können, doch entdecke ich in diesem Augenblick am Horizont eine kahle Stelle zwischen den Baumkronen. Signalisiert mir diese Fehlstelle etwa eine dort befindliche Lichtung? Mit neuem Elan und Tatendrang schwinge ich mein Schwert gegen Blatt und Holz und arbeite mich ohne große Umwege geradlinig auf meine Entdeckung zu. Das Fehlen einer mittelgroßen Baumgruppe ist von hier aus bereits gut zu erkennen, da ich einen großen Fleck des Himmels zu Gesicht bekomme, und ich verschnaufe bei diesem Anblick ein wenig auf Grund des atemraubenden Schlagens. Mein Herz pocht laut, und auch das Blut meines Halses pulsiert energisch untermalt von einem mittellauten Piepen und Rauschen in meinem Ohr. Jedoch nehmen diese Anstrengungssymptome nach einer Minute Verharrens langsam wieder ab, und ich rüste zum erneuten Ausholen, als ich merke, dass es in meinem Ohr unverändert stark rauscht. Auch nach einer weiteren Minute will dieses Phänomen nicht weichen, und ganz plötzlich habe ich den Eindruck, auch plätschernde und brausende Geräusche zu vernehmen. Die Lichtung muss eine Quelle oder einen Bach beherbergen, ist meine plötzliche Erklärung, und begeistert lausche ich mit gespitzten Ohren. Ich vernehme die sehr leise Melodie der kühlen Tropfen, die auf eine Schieferplatte treffen und als Rinnsal durch eine kleine Kiesansammlung dringen, dabei sanft singend und klingend, bis sich der schmale Bach in einen stärkeren ergießt und der vereinigte Strom mit wilden Tönen das Lied der Forelle anstimmt. Aber hier gibt es doch gar keinen Forellen! Hier gibt es nur Fische, von denen ich mir nichts träumen ließ, Alligatoren und andere Reptile, Lurche, Raubfische und Amphibien, die sicherlich zur Ausrottung der eleganten Forelle das ihre beisteuerten.

Von starker Neugierde auf das mich dort Erwartende ergriffen, arbeite ich mich mit doppelten Eifer vorwärts, so dass ich wenige Minuten später den Rand der Lichtung erreiche und verblüfft vor einem recht großen See stehe. Und tatsächlich mündet wenige Meter weiter rechts eine lebensfrohe, zarte Einströmung in das Gewässer und ergießt ihre kühle Flüssigkeit in ihren Adressaten. Die Ökologie befindet sich in erstaunlicher Ruhe und Harmonie, keine Spur von Krokodilen und Piranhas und dem, was ich sonst noch an Echsen und Kröten erwartete. Einige Vögel baden in und laben sich an dem hier vorhandenen Reservoir, doch sonst ist der ganze See ruhig und idyllisch. Das ist der Ort, den ich suche, stelle ich erfreut fest und beschließe, als erstes die Gelegenheit zu einem erfrischenden Bad zu nutzen. Nachdem ich mich entkleidete, strecke ich zuerst einen Fuß auf die Wasseroberfläche, um die Eindrücke des lang gemissten Stoffes gebührend zu genießen. Die Aggregation ist erfrischend und stellt einen schönen Kontrast zu der Schwüle des präsenten Umgebungsmediums, der Luft, dar. Jedoch ist die Temperatur nicht zu gering, sondern eröffnet, meinen ersten Eindrücken nach zu urteilen, ebenfalls die Möglichkeit eines langen und ausgiebigen Bades.

Nun lasse ich mich langsam, möglichst ohne große Wellen zu erzeugen, in das Wasser gleiten und bewege mich mit Hilfe einiger kräftiger Züge vom Ufer weg und spüre die an meinem Körper vorüberziehenden, erfrischenden Strömungen. Nun wende ich mein Gesicht dem hellblau strahlenden Himmel entgegen und lasse mich auf dem Rücken liegend durch wenige, seltene Schübe mit den Beinen vorwärts treiben, wobei ich die Möglichkeit habe, alles hinter mir Gelassene beobachten zu können. Die Sonne steht bereits hinter den hohen Wipfeln der über das Ufer ragenden Bäume, die ihre Äste mir entgegenstrecken fast bis zur Wasseroberfläche. Die Urwaldvegetation ist tatsächlich üppig; sie offenbart mir angesichts des sich mir eröffnenden Panoramablickes ihre ganze unbeschreibliche Vielseitigkeit, Farbenpracht und Vitalität.

Von einer auf die andere Minute ziehen dicke Wolken auf, und ehe ich es überhaupt begriffen habe, bricht über mir mit Donner und Getose das tägliche, armageddonähnliche Unwetter los und verschüttet all die Flüssigkeit, die tagsüber unter senkrecht sengender Sonnenstrahlung aus den Blättern der Baumkronen gesaugt wurde, nieder zur Erde, und ich fühle mich, als wäre ich unter einen Wasserfall geraten. Unglücklicher Weise befinde ich mich jetzt in den ersten von Blitzeinschlägen begleiteten Minuten weit ab vom Ufer und beeile mich deshalb, möglichst schnell wieder Land unter die Füße zu bekommen. Jedoch halten die den dunklen Himmel impulsartig grell erhellenden Entladungen bald wieder inne, und der Regen fällt zwar kräftig, aber homogen und ruhig hernieder, und ich schwimme voller Genugtuung zum Ufer, um dort in einer angenehmen Stellung an eine in das Wasser ragende Wurzel gelehnt, des Endes des Tages inmitten des erquickenden Nasses zu harren. Die tiefen Wolken tauchen alles ringsum Befindliche in ein farbloses Grau, und der warme Regen geht zu meinen Füßen nieder und raut die Wasseroberfläche wie eine Wolldecke auf. Es duftet sehr angenehm, und die drückende Schwüle des Tages verfliegt langsam und weicht der scharfen Kühle der Nacht.

Benommen strecke ich meine beiden Handflächen aus, um mich an der lebensspendenden Flüssigkeit zu laben, muss jedoch verstört feststellen, dass sich plötzlich alles um mich herum zu totem Gestein und mürbem Quarzpulver verwandelt hat. Langsam begreife ich die Tatsache, dass die Realität nicht ganz so traumhaft ist wie die Imagination während eines bewegten Schlafes. Tatsächlich ist rundum alles in die tiefe Schwärze der Nacht gehüllt, jedoch ist die Trockenheit präsent wie vorhin. Seit ich mich erinnern kann, habe ich in diesem Land noch keinen Tropfen Regenwasser erlebt, und wie mir ein greiser Bewohner des letzten von mir besuchten Dorfes, das sich wohl bereits eine Tagesreise von hier entfernt befinden muss, zu verstehen gab, besteht dieses Problem bereits mehrere hundert Jahre.

"Seit Menschen in dieser Einöde hausen", teilte der Methusalem mir mit, "herrscht hier eine ewige Dürre. Um überleben zu können, gruben wir Brunnen von teilweise dreißig, vierzig Metern, die jedoch bald wieder verdörrten, so dass wir von vorn beginnen mussten. Wasser ist für uns kostbarer als alles Gold der Welt!", sprach er und verkaufte mir im selben Atemzuge zehn Kanister dieses unbezahlbaren Lebenselixiers für ein paar Pesos.

"Die Wissenschaftler behaupten", gab er mir mit auf den Weg, "dass es bei uns regnen würde, dass die Hitze jedoch so stark ist, dass die Tropfen verdunsten, ehe sie zu Boden fallen. Ich habe auch schon gehört, dass wir die feuchteste Luft der ganzen Erde besitzen, man theoretisch der Luft das Wasser nur entziehen müsste durch starke Kühlung, aber ich weiß nicht, ob ich dem Glauben schenken soll oder lieber nicht."

So ließ ich den Alten und sein Dorf, seine Probleme und seinen Wissensstand allein und fuhr mit meinem Jeep, der mit allem Notwendigen beladen worden war, von dannen, froh darüber, dass ich mir über solch triviale Dinge nicht den Kopf zerbrechen müsste - mit genügend Geld bekommt man eben alles, wann, wo und wie viel man möchte, und deshalb schlug ich alle Warnungen in den Wind und fuhr geradewegs in das unerforschte Nichts, in welches, sollte man dem Dorfältesten glauben, sich noch niemals jemand wagte aus purem Respekt vor dem Leben, oder sagen wir lieber Todesangst.

Einsam stehe ich nun über den Greis und sein Dorf sinnend und betrachte mir dabei die Gegend, die inzwischen in ein tiefes Dunkel gehüllt ist, das nur durch den verhaltenen Schein der Venus und einiger anderer Himmelskörper etwas beschwichtigt wird. Schnell gewöhnen sich die Augen an eine solche Düsternis und lassen die Umrisse von nahen Xerophyten und weiter entfernt befindlichen, verkrüppelten Akazien erahnen. An einigen Stellen huscht ein unidentifizierbares Objekt entlang und entzieht sich sofort wieder meiner Wahrnehmung. Es dringen zirpende, wimmernde, piepende und quakende Geräusche an mein Ohr und verdeutlichen mir die Umpolung der Lebensverhältnisse hier am trockensten Ort der Welt. Sicherlich würde ich als tierisches Geschöpf ebenfalls während der Tagesstunden die Erdoberfläche meiden und mich in kühle, schützende Höhlen und Risse verziehen und sobald die Strahlung ebbt, meine Behausung verlassen, um meiner Freiheit zu frönen und mich der alltäglichen Geschäfte hinzugeben. Nur schade, dass ich nicht über eine solche nächtliche Orientierungsgabe wie diese mich umschwirrenden Überlebenskünstler verfüge und auf die Helligkeit des Tages angewiesen bin. Sicherlich kann ich mir die ein oder andere Stunde dadurch helfen, dass ich die Scheinwerfer meines Jeeps auf mich und mein Beschäftigungsobjekt richte, oder bei einer räumlich stark begrenzten Tätigkeit auf eine brennende Kerze zurückgreife, jedoch ist dies natürlich kein Ersatz für das von mir gewohnte elektrische Licht, das mittels eines Schalters neben der Tür entzündet und auf Wunsch durch einen Druck auf denselben Taster wieder gelöscht werden kann, beliebig oft und mit einem erstaunlichen Wirkungsgrad, was das Volumen der Helligkeitsausbreitung betrifft, mit der auch eine Ansammlung von einhundert gleichzeitig entflammten Kerzen nur schwer mitzuhalten im Stande ist. Doch wusste ich von vornherein, worauf ich mich hierbei einlasse, und nehme in Gedanken versunken einen Schluck der wertvollsten chemischen Verbindung, die jemals entdeckt wurde.

Ein kühler Ostwind bläst mir einige Siliziumdioxidpartikel in das Gesicht. Aus dem Laderaum meines Jeeps hole ich einen Funkapparat hervor und beginne, mich um dessen Installation an Bord meines Wagens zu bemühen. Nachdem ich die Stromversorgung sicherstellte, versuche ich, einen geeigneten Gegenstand als Antennenersatz zu finden, und entschließe mich letztendlich, einfach die Karosserie zu verwenden, an der ich ebenfalls ein entsprechendes Kabel befestige. Meine ersten Empfangsproben sind nicht von großem Erfolg gekrönt. Hier draußen im Abseits jeder Zivilisation scheinen sogar die Hertzschen Wellen ausgestorben zu sein, und nur hin und wieder dringt das Trägersignal eines Fragments von Musik oder verwischten Worten eines Nachrichtensprechers durch die weite Savanne bis an das verbeulte Blech meines Fahrzeugs. In der hier zu Lande noch den Standart darstellenden Frequenzbereichen der Kurzwelle ist die Übertragung so schlecht, dass ich voller Zuversicht in den UKW-Bereich schalte und langsam den Regler höher fahre, während ich angestrengt, mein Ohr nah an den Lautsprecher haltend, damit die von ihm ausgehenden Signale das leise Pfeifen des Windes übertönen, den wenigen säuselnden Geräuschen lausche, die das Gerät hervorbringt. Außer einigem Knacken, Brummen und Krachen will diese elektronische Architektur partout nichts erzeugen, schon gar nichts von unterhaltendem Wert oder gar in meiner Landessprache. Nun ist das Potentiometer bis zum Anschlag ausgereizt, und enttäuscht entschließe ich mich, alle Bänder nochmals zu durchforsten, als ein ohrenbetäubender Lärm aus der Membran des Radiokorpus’ dringt und ich als erste Rettungsmaßnahme die Lautstärke reduziere. Nun versuche ich, die Empfangsfrequenz wieder abzusenken, doch scheint die Maschine nicht mehr meinem Willen zu gehorchen: was ich auch tue, welche Knöpfe ich drücke, welche Regler ich drehe, der Lautsprecher bringt nur noch ein eckiges Surren veränderlicher Tonhöhe hervor, das dem Übertragungsgeräusch eines Faxgerätes ähnelt und mich zur Weißglut treiben möchte.

"Das Ding ist kaputt...", stelle ich ernüchtert fest, und als wolle mir das Corpus delicti meine Annahme bestätigen, trägt ein Windhauch die Ausdünstungen eines verschmorenden Bauteiles an meine Nase, und ich entschließe mich, um vor dem Schlimmsten zu bewahren, den Stromkreis zu unterbrechen, und lehne mich, enttäuscht meine Mundwinkel verziehend, mit zornigem Schwung in den Sitz.

"Vermaledeite Situation", spreche ich in die Dunkelheit.

"Jetzt sitze ich hier, bin völlig abgeschieden von der Außenwelt!", versuche ich mir einzureden. Tatsächlich besitze ich jederzeit die Möglichkeit, die eintägige Fahrt auf mich zu nehmen und zu dem bereits erwähnten Dorf zurückzukehren.

"Ich sitze fest. Ich kann nur hoffen, dass irgendwann, bevor ich verhungert oder verdurstet bin, durch Zufall ein Fahrzeug hier vorbeikommt, dessen Insasse mich entweder erschießt oder als Geisel nimmt!"

Eine kaum auszumachende Luftbewegung streift mein Haar, während ich die Plane meines Zeltes aufschlage und die nötigen Pfähle errichte. Natürlich scheint es angesichts der absoluten Regenlosigkeit unnötig, eine derartige Behausung zu errichten, da auch während der Nächte die Temperaturen nicht wie etwa in der afrikanischen Großwüste ein erträgliches Maß unterschreiten, sondern sich bei ca. fünfzehn Grad Celsius einpendeln, was also für den Schlaf unter freiem Himmel keinen Abbruch bedeutete, jedoch muss ich, wie man mich bei dem Besuch in einigen Savannendörfern warnte, jederzeit mit dem Einstellen stärkerer erosiver Winde rechnen, die stets eine Menge Staub mit sich bringen, gegen welchen die Leinwand einen willkommenen Schutz bietet. Gelegentlich sollen diese Luftzirkulationen auch stärkere Ausmaße annehmen und ungeheure Sandstürme über das Land ziehen, was mir Abenteurer eine interessante Abwechslung bietet. Gegen derartige Naturgewalten ist man selbstverständlich auch mittels einer Zeltwand nicht gefeit, doch würde ich im Falle des Anbahnens einer solchen Katastrophe schleunigst mein Hab und Gut ergreifen, im Jeep verstauen und mich unter demselben flach auf den Boden legen, die Arme vor dem Kopf verschränken, um Augen, Nase, Mund und Ohren vor den über mich herfallenden Partikeln zu schützen, so empfahl man mir. Ich würde dort ein, zwei Stunden verharren, trotz meiner straußenartigen Lage immer gegen die Gewalt der Windstärken ankämpfend, stets ertastend, ob eine todbringende Verwehung droht. Um mich herum Schwarz, Getöse, schweres Atmen, man neigt dazu zu husten oder zu niesen, aber man darf nicht, man muss platt auf dem trockenen Grund liegend warten, jeder Muskel gespannt, mit den Füßen Halt an den unbeweglichen Reifen des Fahrzeugs suchend, in steter Angst um die Stabilität seines Daches begriffen, das zwar Schutz vor den einbrechenden Gesteinsmassen bietet, aber genauso eine Falle ist, da ein Hindernis wie dieser Wagen einen willkommenen Keim für eine Verwehung darstellt, und in wenigen Minuten ist von ihm und seinem Besitzer nichts mehr übrig als ein flacher Hügel im Profil der Gegend. Letzterer Fall wäre natürlich ein Schicksalsschlag, aber ein kleines Sandstürmchen muss meiner Meinung nach jedermann einmal miterlebt haben...

Im Augenblick jedenfalls sieht es nicht so aus, als ob hier jemals ein Sandkorn mein Auge trüben könnte, und angesichts dieser Tatsache lasse ich es nochmals die undeutliche Ferne abtasten, bevor ich in mein Zelt steige, um im Schein einer Kerze mir noch einige Zeilen eines in der Landessprache verfassten Romans zu Gemüte zu führen, bevor ich trotz meines spätnachmittäglichen Schlummers umhüllt von undurchdringlicher Dunkelheit in einen tiefen Schlaf falle.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Durch ein fernes Brummen werde ich am nächsten Tag geweckt, und einigermaßen erstaunt entschlüpfe ich noch schlaftrunken dem aufgeheizten Zelt, auf das bereits seit einiger Zeit die Strahlen der morgendlichen Sonne herabfallen und das Innere zu einer Folterzelle werden lassen. Gleißendes Licht blendet mich, und ich bilde mit meiner rechten Hand einen schützenden Schirm, um besser in die Ferne blicken zu können. Das Dröhnen wird lauter, die Schallquelle verbirgt sich bislang jedoch hinter einer mehrere hundert Meter entfernt liegenden Düne. Wenige Sekunden später jedoch zeigt sie sich in Form eines mittelgroßen Fahrzeuges, das kurz darauf in seiner Bewegung innehält. Die große, weiße Sonne berührt beinahe noch den Horizont und steht über dem Gefährt wie ein Heiligenschein. Sie verwehrt mir eine genauere Identifikation des Objektes; auch mein künstlicher Schirm will mir die Sicht nicht ermöglichen, und so verbleibe ich in abwartender Haltung ein wenig darüber nachsinnend, weshalb ich schon am ersten Morgen nach meiner Ankunft wieder auf menschliche Wesen treffe, obwohl mir einer der bevölkerungsärmsten Orte der Erde zugesichert worden war.

Es scheint sich etwas auf dem Wagen zu bewegen, und tatsächlich schiebt sich plötzlich eine Person auf das Dach des Fahrzeugs, zwischen die Sonne und mich, und erlaubt mir nun einen tieferen Einblick in das mir Gegenüber. Mit großem Schrecken erkenne ich einen Hummer mit installiertem TOW-Granatenwerfer, an dem sich das erwähnte Individuum gerade zu schaffen macht.

"Um Gottes Willen! Was haben die vor...?!"

Ich schaffe nicht mehr, weiter darüber nachzudenken, denn schon wird das Geschütz auf mich ausgerichtet, und ich laufe mit aller Kraft in Richtung meines Jeeps. Man lässt mir keine Sekunde, denn schon dröhnt die abgeschossene Waffe mir hinterher, und ich wende mich, mein Gesicht angespannt, als wolle ich es zerreißen, mit in den Himmel gestreckten Armen dem auf mich zielenden Geschoss entgegen, das einige Meter vor mir detoniert und eine Feuerwand hinterlässt, deren Hitze mir wie ein Sturm in das Gesicht schlägt und meine Haare versengt. Was ist zu tun mir bleiben wenige Sekunden, bis die Feuersbrunst wieder in sich zusammenfällt und den Blickkontakt zwischen mir und der Militärmaschine freigibt. Die Flucht auf dem Jeep wäre sinnlos angesichts der unbesiegbaren gegnerischen Technik, deshalb ist meine einzige Chance, tot zu sein, verbrannt im Inneren der Detonation - ich muss also verschwinden - in der Nähe ist auf die Schnelle keine geeignete Stelle ausfindig zu machen, deshalb krieche ich vorläufig zwischen die Räder meines Geländewagens wie während eines Sandsturmes. Im Schatten der Karosserie bin ich fürs Erste unsichtbar, sollte die Militäreinheit ernsteres Interesse an mir besitzen, wäre sie gezwungen, herüberzukommen und sich von meiner Abwesenheit zu überzeugen. Als hätte er meine Gedanken erraten, setzt der Hummer seine Fahrt fort geradewegs auf mich zu - wie ich am rechten Vorderrad vorbei erkenne. Mir bleiben wenige Augenblicke, einen Entschluss zu fassen, und sofort beginne ich, mich eilig teils mit Sand zu überschütten, teils mich in ihn hineinzugraben - ganz nach den Gepflogenheiten der Kinder am Strand, die sich bis auf den Kopf einscharren und dabei ungeheuren Spaß empfinden. An mich sind in diesen Sekunden jedoch erhöhte Anforderungen gestellt: ich muss unauffällig agieren, muss zehnmal schneller arbeiten, mein Kopf muss letztendlich ebenfalls vom Erdboden verschluckt werden, ein ernstzunehmendes Problem, über das ich jedoch bei all der Hast nicht weiter nachdenke. Sobald das Rauschen des Feuers verklingt, dringt das Dröhnen des Hummers an mein Ohr, der sich mir in schneller Fahrt zu nähern scheint. Nun muss ich meine Tarnungsaktion unter größter Vorsicht fortsetzen, da nur noch wenige Meter die Unbekannten von mir abgrenzen. Schon beinahe völlig im Dreck versunken bin ich; schütte mir mit der Rechten den Staub über das abgekehrte Gesicht, dessen Augen geschlossen sind. Ich vermeide hastiges Atmen, was mir jedoch unter den Ängsten, die ich auszustehen habe, keineswegs leicht fällt. Meinen Hals verdrehe ich derart, dass meine Nase schräg nach unten gerichtet ist und somit keine Quarzkrumen mich beim Atmen belästigen. Abschließend verschwindet mein übriggebliebener Arm in einem Sandhügel, und unter höchster Gespanntheit harre ich der Dinge, hoffe, dass das Gefährt meiner ungeachtet vorüberzieht. Ich vernehme das Getöse des Hummers, der in der Nähe zum Stehen kommt. Erregte Stimmen übertönen das gleichmäßige Beben des Erdreiches. Mindestens eine Person scheint abgesprungen zu sein und sich in der Nähe aufzuhalten - wahrscheinlich bei meinem Zelt.

"¡Nadie - allí es nadie!"

"¡Pues, pon fuega!"

Um Gottes Willen! Mein Körper ist verspannt und schmerzt an einigen Stellen, doch dies verspüre ich nicht, denn mich ergreift eine andere Angst, diejenige, dass das Dach über mir zusammenfiele, in Brand gesteckt von unbekannten Mordsüchtigen, um alle ihre Spuren auszumerzen. Und erneut vernehme ich die Laute eines nahenden Menschen, seine Schritte, die den Boden um mich erbeben lassen - er kann nur wenige Meter entfernt sein - die Erschütterungen wachsen, und plötzlich verspüre ich einen ungeheuren Druck auf meinem Kopf. Sand gerät in meine Nase, meinen Mund, meinen Hals. Ich versuche, mich zu beherrschen, setze das Atmen aus und flehe in meinem frühen Grab darum, dass alles nur Imagination war, woraufhin die Belastung meines Hauptes nachlässt, die Person, soweit ich es akustisch abzuschätzen vermag, in Richtung ihres Gefährtes verschwindet und ein anschwellendes Fauchen hinterlässt, eines wie vorhin; mein Jeep scheint entflammt zu sein, und entsetzt harre ich der explodierenden Kanister und der unausstehlichen Hitze, die sich über mir ausbreitet. Nur kleine Portionen atme ich aus und ein und befreie trotz der Gefahr akuter Verbrennungen meine Rechte, um wieder eine vernünftige Atmung zu gewährleisten. Eine neue Atemhöhle räume ich frei und huste unterdrückt den Staub aus meiner Kehle, doch das Militärfahrzeug steht bislang unverändert an der alten Stelle, sein Motor hämmert. Das Lodern der Flammen und das Kochen des Brennstoffes in den Kanistern dringen an mein Ohr; sie arten in ein wahres Getöse aus; vereinzelte, krachende Geräusche erschüttern den Erdboden, und der Fahrer des Hummers erhöht vom sinnlosen Schauspiel erregt die Motordrehzahl im Stand. Ächzende Geräusche dringen aus der Jeepkarosserie, und der beißende Gestank des schwarzen Rauches, der bei der Oxidation von Gummi entsteht, nimmt mir den Atem.

 

 

Vom grauen Wüstensand, dem ich meinen Körper übergab, wurde der kalte Schweiß, der sich auf meiner Stirn bildete, absorbiert. Er kühlte mein Haupt, obwohl durch die dünne über mir befindliche Schicht hindurch die von den glühenden Blechen ausgehende Wärmestrahlung auf mich hereinbrach wie die Feuersbrunst eines Scheiterhaufens.

Die Luft wurde plötzlich durch ein entsetzliches Surren zerrissen, welches das mich umgebende Donnergrollen übertraf. Während meiner letzten Atemzüge identifizierte ich das ohrenbetäubende Geräusch als dasjenige des defekten Radioapparates, der sich durch die unnatürlichen Umgebungsbedingungen selbsttätig aktiviert haben musste und einen wesentlichen Beitrag dazu leistete, dass die letzten Minuten meines Lebens zu einer wahren Höllenfahrt, zu einer Orgie des Schreckens wurden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

3

Aus tiefgründigen Gedanken werde ich aufgeschreckt, als die Schritte sich nährender Personen an mein Ohr dringen. Im Schloss dreht sich der Schlüssel, und herein treten ein Uniformierter und - Arthur.

"How do you do?", begrüßt mich der Australier, meine Lage fehldeutend.

"Did you drink too much?"

"I never drink, you know!", antworte ich, während meine Gedanken zu einer früheren Bekanntschaft schweben, die einige Nächte wegen sinnlosem Vandalismus in einer Ausnüchterungszelle verbracht hatte. Wie sehr ich mir wünschte, in ihrer Haut zu stecken.

Arthurs kräftige Hand erfasst die meinige, die ich ihm mühsam entgegenstrecke. Während er den an meiner Liege stehenden Holzschemel zurechtrückt und sich placiert, fragt er:

"What’s goin’ on? Tell me!"

Die Ereignisse der letzten Tage werden von mir beschrieben, und als ich am Ende meiner Erläuterungen angelangt von dem Objekt, das ich seit geraumer Zeit pausenlos anvisierte: den wenigen durch den Staub sichtbar gemachten diagonal durch den Raum fallenden Sonnenstrahlen, die den Weg durch das vergitterte Guckloch finden, als ich also von diesem Objekt meinen Blick abwende und demjenigen Arthurs begegne, gewahre ich seine aus dem runden Gesicht wie Glühbirnen heraustretenden Augen, die von starker Bestürzung zeugen. Oder ist es eher eine Wunschvorstellung, dass er verblüfft und erschrocken auf meine Schilderungen reagiert? Das erwartete "God is great!" bleibt aus, und auch ein mitfühlendes "It’s horrible!" formen seine Lippen nicht. Der ungetrübte Blick zeigt mir, dass er nicht der Richtige ist, um sich fallen zu lassen oder gar Trost zu finden, er bleibt auf dem Boden der Tatsachen:

"What y’ gonna do now?"

"I need your help and that of some of your friends."

"Most of them’re livin’ in the States, don’t believe that they’re able to do something for you."

"Exactly these men..."

Der mir zugeteilte Pflichtrechtsanwalt suchte mich auf, nachdem ich bereits drei Wochen in der einsamen Kerkergruft verbracht hatte. Zweifelsohne am härtesten erschienen mir die ersten Stunden, in denen man mich augenscheinlich vergessen hatte. Erst, als ich nach acht Tagen verlangte, meinem gesetzlich zugesicherten Anwalt vorgestellt zu werden, vertröstete man mich zunächst mit einem Buchbestellkatalog, der mir die Möglichkeit eröffnete, mich zu unterhalten, was mir die Zeit, in der ich bereits einsaß, verwehrt worden war. Vorher kam ich mir vor wie Dr. B. in Stefan Zweigs "Schachnovelle", als er eingesperrt in den sechs Ebenen eines Verlieses vergeblich nach einer Unterhaltungsform spähte.

Die weiß getünchten Wände und Decken begannen, sich langsam zu drehen, wenn mein starrer Blick aus den tief in ihren Höhlen liegenden Augen senkrecht nach oben stieg, wenn ich trotz der Gewissheit, statisch verankert zu sein, das Gefühl hatte, um alle drei Achsen des Universums zu rotieren. Auch die karierten Strukturen meiner Wolldecke schufen durch ihre schwarz-weißen Kontraste keine Abwechslung, sondern bewirkten lediglich ein eiliges Flimmern der auf meiner Netzhaut abgebildeten Formen. Was sich sonst noch inmitten der Stille und Einsamkeit befand, war so karg und trostlos, dass, es zu beschreiben, nicht der Mühe wert wäre. Das Prinzip meiner Peiniger lag klar auf der Hand: durch Beschäftigungsabstinenz sollte auf meinen Geist ein so starker Druck ausgeübt werden, dass er zerplatzen und alles das freigeben würde, was unter herkömmlichen Bedingungen niemals an das Tageslicht getreten wäre. Doch, dass meinen informationssüchtigen Augen die Konturen eines sich unter einem Mantel verbergenden Buches während eines meiner seltenen Verhöre nicht entging, konnten die Gestapo-Funktionäre nicht ahnen. So wiederfuhr jedenfalls Dr. B.

Während ich dieser erpresserischen Vernehmungen vergeblich harrte, zeichneten sich immer deutlicher die Gegensätze zu den Geschehnissen, die dem Adligen widerfuhren ab, denn niemand schien auch nur ein kleines Interesse an mir zu besitzen. Ab und zu versäumte man die Zuteilung einer Mahlzeit, und an einem Tage erhielt ich schließlich gar keine Verpflegung mehr, und erst als ich am nächsten Morgen lauthals auf mich aufmerksam machte, rang man sich durch, mir eine doppelte Ration des morgendlichen Wasserschleims zu verabreichen. Das erste Mal war an diesem Morgen das Gemisch aus Getreideabfällen, Tieröl und chlorhaltigem Wasser für mich genießbar.

Mit zwei Personen kontaktierte ich während der ersten drei Wochen: mit dem Zellenwart, der nie ein Wort über die Lippen brachte, und schließlich einem Offizier, der mich herablassend musterte und wutentbrannt schrie, wenn mir einfiel, nicht kerzengerade neben meiner feinsäuberlich bereiteten Liege zu stehen, wenn er mein Gemach betrat. Beinahe glaube ich, dass Kirchhaimer stets schrie. Oft entrüstete er sich über meine ungepflegten Stiefel, über mein zerknittertes olivfarbenes Sakko oder die ausgebeulten Taschen meiner Militärhose. Natürlich findet es die Jugend, zu der ich mich bis jetzt ebenfalls zählte, sehr attraktiv, sich in diesem Design zu bewegen, jedoch war es nicht meine sonstige Abneigung gegen diese Mode, die mich mit Unwohlsein tränkte, sondern, dass mir keine andere Wahlmöglichkeit oblag: täglich gab es frische Kleidung, alles in oliv, alles das, was mir von der Straße her bekannt war...

Auf die Frage, welchen Sinn diese Einengung hätte, warum man mir nicht gleich eine Sträflingskleidung verpasste, erhielt ich vom Zellenwart keinerlei Antwort und Offizier Kirchhaimer drohte mit sogenannter "Strafpotenzierung" im Falle der Fortführung solch unsinniger Befragungen.

Als ich eines Tages eine kleine Andeutung bezüglich der unzumutbaren Verpflegung machte, traf mich der feurige Blick des Offiziers wie ein Laserstrahl, der meinen Kopf zerbohren möchte, und sogleich verstummte ich in der Gewissheit, das Essen schmeckte doch gar nicht so schlecht, wie ich erst dachte.

Dass ich nach wenigen Begegnungen mit Kirchhaimer bereits unterließ, ihn weiter wegen des Zeitpunktes der Zustellung meines Anwalts zu belästigen, zahlte sich aus, denn ehrlich gesagt glaubte ich angesichts der unbegreiflichen Umstände meiner Haft nicht mehr daran, dass dieser fiktive Anwalt, von dem gesprochen worden war, überhaupt existierte. Doch er kam und - war ein Militär.

Ich erhob mich und blickte ihm erwartungsvoll entgegen, doch er blies mir mit forschem Grollen durch seine klapprige Zahnreihe entgegen:

"Sagen Sie mal, denken Sie, dass Sie als Schwerverbrecher auf jede militärische Disziplin pfeifen können?"

Verschreckt richtete ich meine Wirbelsäule auf und schlug die Hacken zusammen. Während der mit einigen Sternen bestickte Alte mich mit einem Fingerzeig anwies, den einzigen in meiner Zelle befindlichen Stuhl an einen bestimmten Punkt in einer definierten Ausrichtung zu positionieren und ich seinem Befehl Folge leistete, richtete der Zellenwart einen klappbaren Tisch davor auf und ließ mich daraufhin mit dem finster dreinschauenden Juristen allein. Dieser setzte sich nieder und brachte aus den Tiefen seiner Ledertasche einige Unterlagen an das Neonlicht, las sich wohl erst einmal durch, warum er sich hier befand. Nach einigen Minuten blickte er zu mir auf, und ich bemerkte, dass nur eines seiner grauen Augen auf mich gerichtet war, während das andere, das rechte, an mir vorbeizusehen schien.

"Wissen Sie, was es bedeutet, einen Mord zu begehen?"

"Ja" - der Stil militärischer Befragungen fordert bekanntermaßen Konkretheit.

"Sind Sie sich bewusst darüber, was das allgemeine bürgerliche Recht für einen Mörder vorsieht?"

"Ja"

"Aber...", fuhr mich der Alte unbeherrscht an, "Herr Unterfeldwebel Dennis Paix, sind Sie sich im Klaren darüber, was das Militärrecht einem Mörder zugesteht - die Todesstrafe, wenn es mir nicht ..."

"Was soll das alles?!", unterbrach ich ihn wahrscheinlich mit angstverzerrten Gesichtszügen und zitternder Stimme, "Ich bin sowohl kein Unterfeldwebel, noch sonst irgendein Soldat und schon gar kein Mörder!"

"Machen Sie sich keine Hoffnungen! Mit solchen Individuen wie Ihnen habe ich oft zu tun, bislang hat solche Tour noch jeden geschadet. Also überlegen Sie sich, ob Sie konstruktiv mit mir zusammenarbeiten wollen oder ob Sie sich im Prozess selbst verteidigen wollen, mir soll es nur recht sein - bezahlt werde ich in jedem Falle."

Mit fast geschlossenen Lidern visierte er wohl die karierten Muster meiner Wolldecke an und wartete auf eine Reaktion.

"Was wird mir angehängt?"

"Sie sollen am 18. August diesen Jahres um 12:40 Uhr MEZ auf dem Friedrichsplatz einen bislang noch nicht identifizierten Mann mit einem Küchenmesser erstochen haben."

"Wer behauptet das?"

"Zeugen des Vorgangs sind fünf Personen, die obige Aussage bereits vor drei Wochen zu Protokoll gaben und auch eidesstattlich angaben, sowohl mit dem Ermordeten als auch mit Ihnen nicht verwandt, verschwägert oder bekannt zu sein."

"Welches Motiv wird mir unterstellt?"

"Das Motiv kennen Sie; es wäre zwar auch für uns interessant, es zu kennen, was jedoch zählt, sind letztlich nur die Geschehnisse und Ihre geistige Verfassung, die von einem Militärpsychologen untersucht werden wird."

"Und was ist, wenn es nur Totschlag oder gar ein Unfall war?"

"Ein Unfall wird durch die Zeugenaussagen ausgeschlossen, um jedoch den Vorwurf auf denjenigen eines Totschlages abzuschwächen, bedarf es Ihrer Erläuterung der Hintergründe, Motive, Beziehung zum Opfer, etc. etc."

"Ich kannte den Mann eigentlich nicht."

"Was heißt hier ‚eigentlich‘?", schrie der Anwalt, erzürnt mit der Faust die Tischplatte bearbeitend.

"Sie kannten die Person, von der man bislang nichts weiß? Bringen Sie Licht in das Dunkel!"

"Moment, Moment...", ich war mir durchaus dessen bewusst, dass ich nicht die Berechtigung besaß, die mir vis-à-vis sitzende Militärperson zur Ruhe aufzufordern, aber es folgte nicht die Reaktion, die unser Rangunterschied normalerweise gebot, kein Platzverweis. Natürlich konnte alles ein bürokratischer Irrtum sein, etwa die Jahr-2000-Umstellung eines Verwaltungscomputers, der urplötzlich einige Zahlen durcheinander würfelte und die Listenplätze eines Datenbanksystems verschob. So kann aus dem Wehrdienstbefreiten Dennis Paix von einem auf den anderen Augenblick der Unterfeldwebel Dennis Paix geworden sein, mit definierter Kaserne, fester Kompanie, eindeutigen Kameraden.

"Was ist mit meinen Kameraden?"

"Lenken Sie jetzt nicht ab, bringen Sie Licht in das Dunkel!"

Das Temperament des Greises war ganz plötzlich erwacht, nun wirkte er jünger, und der Blick seines versehrten Auges schien jetzt wie derjenige des anderen ganz fest auf meinen Lippen zu haften.

"Was interessiert Sie das? Sie hatten bislang kein tatsächliches Interesse an dem Geschehenen, wieso jetzt?"

Sein Blick fiel ab, und er drückte sich zurück in den Holzstuhl, seine Hände über dem Papier ausbreitend.

"Mein Interesse ist kein persönliches, sondern ein rein dienstliches.", behauptete er.

Tief in meinem Inneren spürte ich, dass die Situation verworrener war, als sie mir bis eben noch erschien. Was ich jetzt am meisten benötigte, war Zeit zum Entwerfen eines Gemäldes, eines Geflechtes, das mir aufzeigte, was hier tatsächlich vorlag: eine Verknüpfung mehrerer Zufälle gar? Das erschien mir sehr unwahrscheinlich, und ich entschloss mich, meinen an einem seidenen Faden hängenden Schicksalsweg nicht dieser seit drei Wochen einzigen Hoffnung, die ich besaß, anzuvertrauen. Offensichtlich leistete dieser Mann keinen Beitrag zur Entfesselung der Probleme und Missverständnisse, die zweifelsohne vorlagen. Angesichts dieser Tatsache entschloss ich mich, die Rollen des Theaterstückes, das die wenigen Personen, die mir in diesem Gefängnis begegneten und auch ich selbst, der wahrscheinlich als einziger unfreiwillig die seinige übernommen hatte, spielten, zu ändern. Dass ich meine Verteidigung diesem manipulierten Alten keinesfalls anvertrauen konnte, wenn ich nicht tatsächlich mit dem Tod Bekanntschaft machen wollte, war unumgänglich. Doch war dieser Mensch bislang der einzige, mit dem ich mich vernünftig auseinandersetzen konnte und der über eine Vielzahl an Informationen über mich verfügte, die vor mir auf seiner Klappvorrichtung ausgebreitet waren. Ein unfreiwilliger Informant also, dem das Wissen, über das er verfügte, nur noch abgerungen werden musste.

"Die Waffe - wurde sie untersucht?", begann ich den Spieß umzudrehen und meinerseits den Anwalt zu verhören.

"Haben Sie mich nicht verstanden? Wenn Sie nicht bereit sind, über die Beziehung zum Getöteten Bericht zu erstatten, können Sie in Zukunft auf meine Hilfe gänzlich verzichten!"

Mit diesen Worten klaubte er seine Schriftstücke zusammen und verließ, nachdem er dem außerhalb wartenden Zellenwächter sein Vorhaben signalisiert hatte, ohne weitere Bemerkungen seinen Schemel in Richtung Ausgang. In der Tür blieb er stehen und wandte sich um:

"Ach, und noch etwas", erhob er das Wort, wobei er einen Papierbogen dem vorderen Teil seiner ein wenig verschlissenen Tasche entnahm. "Sollten Sie sich innerhalb der nächsten Wochen und Monate besinnen, dann füllen Sie diese Geständniserklärung aus, Unterschrift und Datum, sollten Sie es kennen, nicht vergessen! Unter ‚Zusatzerklärung‘ bitte nichts eintragen. Die Details, über die wir vorhin sprachen, wünsche ich, persönlich zu protokollieren."

Den Bogen placierte er auf dem sonst leeren Beistelltisch und verließ den Raum mich fassungslos sitzen lassend - allein - wie schon seit über 20 Tagen - und, wie mir die Andeutungen des Anwalts prognostizierten, auch geraume Zeit in der Zukunft.

Als der Wart einige Minuten später in meine vier Wände trat, um die provisorische Schreibablage wegzuschaffen, saß ich noch immer apathisch und zusammengesunken an derselben Stelle, mit starren Augen den wenige Schritte von mir entfernt liegenden Schreibmaschinenbogen fixierend, der mein baldiges Ende besiegeln sollte. Wenige Sekunden darauf umgab mich absolute Stille, und meine Blicke hafteten auf dem Papier, das nun ein wenig distanzierter auf dem wackligen Holzstuhl lag. Die Beleuchtung war vom Wärter eingeschränkt worden, so dass lediglich eine verhalten leuchtende Lampe über dem Eingang ihren extensiven Schein über das ergoss, was diese Behausung ausmachte: über den staubigen Zementboden und die weißgetünchten Wände, von denen sich hie und da die Farbe löste, über mich, die Liege, das Toiletten- und das Waschbecken, aus deren Öffnungen ab und zu kleines Getier herauskroch, das ich des öfteren abtötete, um eine Großinvasion zu verhindern. Doch obwohl das wenige Licht allem ein graues, düsteres Aussehen verlieh, leuchtete ein Gegenstand mit größerer Intensität als alles darum sich Befindende. Bald schien es hellgrün, bald rosa und bald himmelblau, und die schillernden Farben des Dinges begannen mit den rauschenden sich in meinem Kopf abzeichnenden Klängen sich zu vermengen in absoluter Harmonie. Die Gefühle jedoch, die dieses hell strahlende und rauschende Etwas in mir erzeugte, waren keineswegs harmonischer Natur - ganz im Gegenteil. Ein Empfindungsschwindel durchzog meine Seele und brandete an die starken Mauern meiner Erinnerung. Die Vergangenheit - all das Geschehene, all die Hintergründe des mich fesselnden Schicksals - und die Zukunft - der offensichtliche Kampf um das Sein oder Nichtsein - lieferten sich tosende Gefechte und ließen das Blut durch meine Adern wallen, dass der Herzschlag mich durchfuhr wie ein Erdbeben, dem ich hilflos ausgeliefert bin - sie rangen um die Gegenwart - um genau das, was ich tun musste in diesem Augenblick. Zunächst kam es mir vor, als ob ich nur in einen nicht versiegenden Tränenstrom mich auflösen müsste, und dann wiederum schienen die Schläge in meinem Hals die Haut zu zerreißen, meinen Schädel, in dem ein ungeheurer Druck sich breit machte, zu zerbersten und die Finger meiner geballten Fäuste zu zerbrechen wie Tafelkreide. Der Grund für die Orkane in meinem Inneren lag in dem glühenden Gegenstand vergraben, auf den ich mich zubewegte, um ihn zu vernichten. Je näher ich trat, desto intensiver wurde das Leuchten und verwandelte sich in ein feuriges Strahlen, das an flüssiges Metall erinnerte. Zitternd ergriff ich das Objekt und hielt es vor meine Augen, um es zu zerstören. In dem Moment, als ich begann, es zu zerfetzen, fing ich mit meinen beinahe zugekniffenen Augen die Silbengruppe "Gesta" auf. Die weißglühenden Segmente, die meine Hände ineinander drängten und zum Ertränken in das Wasser des Toilettenbeckens tauchten, waren so schnell verschwunden, wie sie entstanden waren, und mit ihnen der einzige gegenständliche Zeuge meiner heutigen Begegnung mit der grauenhaften Erscheinung des Juristen. Auf den Boden mich stützend rang ich nach Luft und schleppte mich zur Liege, auf der ich wilden Träumen ausgeliefert einschlief.---

 

Ein morgendliches Essen soll romantisch sein. Unter diesem Vorsatz erhebe ich mich von dem sonnenüberfluteten Frühstückstisch, meine Schritte zum Fernsehgerät lenkend. Im Regal ergreife ich eine Schallplatte mit einer Schönbergsinfonie und stecke sie hinter die Mattscheibe, die daraufhin zu flimmern beginnt und einen energischen Dirigenten, der ein feuriges Orchester leitet und bemüht ist, dem sterilen Notenwerk erhebende Lebendigkeit zu verleihen, zeigt. So schnell habe ich Schönberg gar nicht in Erinnerung, denke ich, und betrachte von meinem Platz aus das kalte, graue Haferwasser, das ich lustlos mit meinem Löffel durchrühre. Angesichts der sonstigen Leere des Tisches wird mir deutlich, dass keine Alternativen existieren. Also fülle ich den Esslöffel und versuche gerade, meine Abscheu zu überwältigen, als an der Haustür geläutet wird. Arthur ist es und empfängt mich mit:

"Sorry."

Im Anschluss daran scheint er deutsch zu sprechen, obwohl ich mir eigentlich sicher war, dass er kein Wort dieser Sprache versteht.

"Ich hab’ gestern deinen Wagen geklaut..."

An seiner Schulter vorbeiblickend sehe ich das Gefährt, jedoch stelle ich fest, dass es länger geworden sein muss.

"Nicht so schlimm, komm’ doch rein, ich habe noch Suppe."

"Ich möchte mich revanchieren", setzt er das Gespräch fort, während wir den Flur durchschreiten.

"Was war eigentlich los?"

"Da war so ein Typ, der dürfte dich auch interessieren."

"Ja? Wer denn?"; wir sind gerade dabei, uns zu setzten, da schreit Arthur aufgeregt:

"Der da! Der da!"

Mit zitternden Händen deutet er zu dem Dirigenten auf dem Bildschirm, der sich langsam umdreht und plötzlich offenbart, wer er eigentlich ist: der Militäranwalt. Dessen Stab ist in Wirklichkeit ein Säbel, den er uns entgegenstreckt. Die von ihm dirigierte Sinfonie erreicht ein höllisches Tempo, und er schwenkt dementsprechend schnell seinen Säbel auf uns zuschreitend durch die Luft, so dass pfeifende Geräusche an mein Ohr dringen.

"Wo bleibt die Revanche?"

Ich schreie vor Angst, erschlagen zu werden. Doch Arthur zieht seinerseits ein Schwert und drischt ohne Rücksicht auf Verluste auf den militanten Greis ein. In dem Augenblick, in dem seine Brust von Arthurs Waffe durchbohrt wird, ist eigenartigerweise die Platte zu Ende, doch der Alte bleibt liegen, ist nicht mit der Musik zusammen verschwunden.

"Und die schwarze Ledertasche?", fragt Arthur, sein blutiges Schwert in die Scheide steckend.

"Du weißt von der Tasche?"

"Natürlich - sie enthält dein Geheimnis!"

"Ja, wo ist sie nur?", wundere ich mich nun auch und beuge mich über die Leiche. Mein Blick fällt auf die Schärpe des Toten, auf der anstatt der Sterne nun das Wort "Gesta" steht.

"Du musst verschwinden, Dennis, die töten dich sonst, bevor du dich versiehst."

"Aber wohin?"

"Nach U.S.A., ich habe dort gute Freunde, die helfen dir weiter!"

"Danke, Arthur, dann darf ich jetzt keine Zeit mehr verlieren. Und den Wagen kannst du behalten, der ist jetzt egal..."

Wenn man aus Träumen erwacht, entschwindet in wenigen Sekunden bereits ein Großteil der Details, nach einer Stunde aber, ist es in der Regel unmöglich, auch nur fragmentarisch das Geträumte zu rekonstruieren. So geschah es auch mit dem Abschluss dieser Geschichte, von welchem ich nur noch weiß, dass ich wahrscheinlich mit Arthur in meinem Wagen fahrend mir mit mehreren unbekannten Verfolgern ein Rennen lieferte, das für uns wohl ungünstig endete. Alle anderen Einzelheiten jedoch brannten sich in totaler Scharfumrissenheit in meine Erinnerungen ein, und ich schöpfe aus ihnen, aus diesem einzigen Traume, meine gesamte Willenskraft, meine Ideen und Schlüsse bis zum jetzigen Augenblick. Es ist nie klug, einen Traum so ernst zu nehmen, denn all das in ihm Geschehene ist nicht real und entspringt einer Wahn- und Wunschvorstellung, jedoch war ich angesichts meiner Lage gezwungen, diesen Traum genauso zu nehmen, wie er gewesen war, nichts sollte umgedeutet, nichts korrigiert werden. Mich an die völlige Abschaltung meiner rationalen Funktionen vor einigen Stunden, als ich das weißglühende Objekt in Stücke riss, erinnernd, wurde mir klar, dass ich auch im wachen Zustand durchaus nicht mehr ganz zurechnungsfähig war. Meine Konzentration hing sich auf, mein Gedächtnis war bisweilen durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Diese Tatsachen sprachen für sich und verdeutlichen auch demjenigen, der nicht recht glauben kann, dass ein Traum einen Menschen derart lenken und leiten kann, wie der jener Nacht es tat, dass es keine andere Option für mich gab. Mein Kopf entwickelte nichts Statisches mehr als diese erträumten Begebenheiten. Worauf sollte ich sonst bauen?

Diesen Tag verbrachte ich damit, meine Gedanken neu zu formieren.

Keinen Moment warf ich auch nur einen Blick in die wenigen, mir zugestandenen Bücher, die ich aus dem Katalog ausgewählt hatte. Immer und immer wieder schwebten meine Gedanken zu dem am Boden liegenden, erstochenen Greis, zu seiner Uniform, er erschien mit derart lebendig, dass ich bald glaubte, ihn vor meiner Schlafstatt auf dem Zementfußboden liegen zu sehen. Jede Kontur zeichnete sich deutlich ab, und auch sein Schwert lag links neben ihm in seiner leblosen Hand. Die klaffende Bauchwunde spie kein Blut, und seine glasigen Augen starrten in die Leere. Lange - wohl mehrere Stunden - tastete mein Blick die Umrisse des Mannes ab. Natürlich war ich Arthur für seine Revanche dankbar, jedoch wurde mir allmählich klar, dass diese Person, die nun leblos zu meinen Füßen lag, ein Wissen in ihrem Innersten verbarg, das für mich von enormer Bedeutung war, und ich begann zu bedauern, dass es so weit kommen musste. Meine Finger strich ich über die Lider und massierte ein wenig meine Schläfen, als der Wart eintrat und mir das abendliche Mahl servierte: Brot, Käse, Wasser.

"Ich möchte Offizier Kirchhaimer sprechen!"

"Das wird heute nicht mehr möglich sein, und morgen ist Sonnabend...", entgegnete er. Ich vernahm, wie er wohl das Tablett auf den abseits stehenden Stuhl stellte. Da öffnete ich die Augen und verzog mein Antlitz, um grausam und furchteinflößend zu wirken.

"Das interessiert mich überhaupt nicht. Richten Sie ihm aus, dass der mir zugeteilte Pflichtanwalt in Lebensgefahr schwebt und sein Tod im Falle des Nichterscheinens des Herrn Kirchhaimer nicht mehr aufzuhalten ist!"

Zu meinen Füßen gewahrte ich die Leiche des Anwalts, die für den verschreckt blickenden, in seinen Bewegungen stagnierenden Wart so unsichtbar war wie die Luft in einer leeren Flasche.

Ohne ein weiteres Wort von sich zu geben, verließ er die Zelle. Bald darauf hörte ich seine Schritte davoneilen.

Nur wenige Minuten waren vergangen, da betrat Kirchhaimer mit einem Unteroffizier mein Verlies, ich stand vorbildlich neben dem Leichnam, dessen Umrisse für mich noch deutlich erkennbar waren, nur die Farbe seiner Uniform waren ein wenig verblasst und glichen sich allmählich derjenigen des Bodens an.

"Was sagen Sie da, Unterfeldwebel Paix?!", schrie mir der Offizier ins Gesicht, dass ich das Gefühl hatte, ich befände mich in einem Schneesturm, "ich glaube, sie verwechseln etwas die Tatsachen! Nicht ihr Verteidiger, dem sie sich in Ihrer Lage zu Füßen werfen sollten, sondern Sie schweben in höchster Lebensgefahr! Und überlegen Sie sich das nächste Mal gut, wie Sie mit dem einzigen Menschen, der sie vielleicht noch retten kann, verfahren, und mit dem, was er ihnen gibt!"

"Entschuldigen Sie, Herr Offizier, aber so war es nicht gemeint, das muss ein unschönes Missverständnis gewesen sein. Natürlich ist der Pflichtanwalt nicht tot...ich meine, in Gefahr, aber für mich...Sie verstehen? Ich kenne meine Rechte und weiß, dass ich mir einen eigenen Anwalt auswählen darf, sofern ich ihn bezahlen kann..."

"Sind Sie noch ganz bei Trost? Wo leben Sie denn? Hier herrscht nicht irgendein Recht, sondern eines der härtesten Rechte der Welt; eine Person wie Sie kann doch unmöglich von einem dahergelaufenen Verbündeten vertreten werden, der vielleicht noch versucht, Sie zu befreien! Wo kämen wir denn...?"

Ich unterbrach ihn, nachdem ich während seiner immer leiser werdenden Worte eine aufgeplusterte und kalte Haltung angenommen hatte, und begann nun mit verändertem Tonfall, erhaben über die beiden mir gegenüber Stehenden hinwegschauend, ruhig zu sprechen:

"Jetzt hören Sie mir einmal gut zu, Kirchhaimer. Mein Name ist Dennis Pierre Paix. Ich weiß zwar nicht genau, was hier gespielt wird, jedoch bin ich mir im Klaren darüber, dass ich über Informationen verfüge, die für Sie und insbesondere für den Herrn Pflichtverteidiger von großem Interesse sind. Allerdings bin ich nicht bereit, ohne meinen Anwalt Arthur McDean auch nur einen Bruchteil meines Wissens preiszugeben, was nütze..."

"Jetzt reicht‘s, Paix, Sie scheinen ja völlig durchgedreht zu sein", entrüstete Kirchhaimer sich mit einer sagenhaft brutalen Stimme, die wie eine große Faust in mein Gesicht schlug, und zum neben ihm verstört die Szene Beobachtenden richtete er sich forsch:

"Kommen Sie, hier ist nichts mehr zu retten."

Auf ihr Pochen hin wurde geöffnet; während sie hinaustraten rief ich ihnen hinterdrein:

"Arthur McDean! Der Australier Arthur McDean, mein Verteidiger..."

Das ohrenbetäubende, metallische Geräusch der zufallenden Stahltür unterbrach meine Rufe und setzte ein weiteres Mal einen Punkt zwischen die einzigen sozialen Kontakte, die ich seit vielen Tagen pflegte, die jedoch nur aus Geschrei und Gehorsam bestanden, und die ewig erscheinende Einsamkeit, die zueinander im zeitlichen Verhältnis eins zu hundert standen. Trotzdem waren mir die letzteren Abschnitte die lieberen...

(3. Dezember 1999)

 

<zurück>